„Ein Bett als Grab und darin einen Leichnam, der von seinem Tod nichts weiß, lebend faulend und ich mit ihm.“ (Sancia Fischbein). So beschreibt Thérèse ihr eheliches Lager. Doch die Flucht aus diesem fauligen Bett wird für Thérèse nicht zur siegreichen Selbstermächtigung. Sie führt die Protagonistin unweigerlich in eine noch tiefere Hölle mit dem Geliebten. Eine Hölle der gegenseitigen Zerstörung.
Thérèse kam als unrühmliches „Mitbringsel“ aus Algerien. In der französischen Provinz wird sie zum Mündel von Madame Raquin, die das Mädchen bald zur Pflegekraft für ihren schwindsüchtigen Sohn Camille heranzieht, und schließlich zu dessen Braut. Thérèse ekelt es von Anfang an davor, das schweißfeuchte Bett mit dem kränklichen Mann zu teilen. Bei erster Gelegenheit beginnt sie eine Affäre mit einem Freund ihres Mannes. Zola schreibt: „Die Frau zäh und verlogen, der Mann vollblütig und stumpfsinnig, dergestalt bildeten sie ein mächtig verbundenes Paar.“ Um ihre Lust zu leben lassen sie Camille bei einer Bootstour in der Seine ertrinken. Den Liebenden kann keine Schuld nachgewiesen werden. Somit stünde ihrem Glück nichts im Wege. Außer den Abgründen ihrer eigenen Psyche, die sie am Ende fast in einen weiteren Mord treiben.
Wulfin Lieske hat den Stoff in eine bedrückend-furiose Komposition überführt. Dabei sind den einzelnen Figuren unterschiedliche Führungsinstrumente zugeordnet. Madam Raquin: Bassklarinette, Camille: Piccolo-Trompete, Thérèse: Englischhorn, Laurent: Bassposaune. Dazu strukturiert die Domino-Gesellschaft das Geschehen wie eine Chor-Parodie aus einer antiken Tragödie. In seiner ersten Oper zeigt sich Lieske als kühner Stilist, der zwar im Kern atonal und teils aleatorisch komponiert, aber keine Scheu vor Zitaten aus dem Jazz, aus dem Maghreb oder aus der (Wiener) Klassik hat. Schroff, ja kantig kommt die Partitur daher und selbst als das Liebesgefühl bei Thérèse erstmalig erwacht, klingt es wie ein musikalisches Zitat von Liebe, das immer wieder von niederen Lüsten und Frequenzen geschluckt wird.
Der erste Impuls für die Adaption von Zolas Romans kam von Stephen Ibbotson. Er konzipierte das Szenarium und integrierte die Textebene des „Profilers“.
Das Libretto stammt von der Schriftstellerin Sancia Fischbein, die bei Poetry-Slams und Spoken Word Performances immer wieder der Farbe und dem Rhythmus der Sprache nachgeht. Ihr Libretto legt in einem Oper-untypischen Duktus den Pulp Fiction-Kern von Émile Zola frei. Die Vulgarität des Schundromans tritt zutage, die Süffigkeit des Groschenromans, das ganze eitriges Milieu der Pariser Bourgeoisie. Oder wie die Kritik einst schrieb: das „Jauchige“ von Zolas Roman. Zola suchte keine Überhöhung durch erzählerische Distanz. Er nahm den Stoff als ein Fundstück von der Straße. So wie der Fall in den Pariser Gazetten erschien: als reißerischer Artikel über einen abgründigen Liebesmord auf der Seine.
Der Titel Domino weist auf das Paradoxon des Stoffs. Denn genau wie beim Domino-Effekt folgt jede Handlung stringent aus der vorangegangenen. Der Mord ist ebenso unausweichlich, wie zuvor die Eheschließung und am Ende die gegenseitige Zerfleischung. Auf der anderen Seite ist aber die Domino-Gesellschaft der statische Teil der Oper. Jene kleine Spielergruppe, die sich wöchentlich im Hause der Raquins trifft, kommentiert in Endlosschleife den neuesten Tratsch von Paris. Und sie kommentiert das Fehlen ihres ermordeten Gastgebers mit dem gleichen Bedauern, mit dem sie einen heruntergefallenen Stein beschreiben würden. Sie erregen sich, sie ereifern sich. Aber sie handeln nie. Und so wird der Dominoeffekt zur Konstante des Lebens. Er ist das Korsett, das allen Halt gibt. Denn das Spiel geht weiter.
Ein Zeitungsbericht über Thérèse Raquin, die gemeinsam mit ihrem Liebhaber den kränklichen Gatten tötet, bildet die Grundlage für einen umstrittenen Roman von Emilé Zola. Statt sich moralisch von der Tat zu distanzieren, beschreibt Zola die Ereignisse wie ein Wissenschaftler seine Versuchsanordnung im Labor. Ohne Empathie, ohne Sympathie, dafür mit analytischem Blick auf das eigentümliche Biotop und die Besonderheiten seines Untersuchungsgegenstands. Bei der Veröffentlichung (1867) warf man Zola vor, er schreibe „pornographische“ Literatur. Die Literaturwissenschaft erkannte Jahre später in Thérèse Raquin die Geburtsstunde des Naturalismus.
Anders als Flauberts Madame Bovary bietet Thérèse Raquin keine wirklich feministische Lesart. Denn Thérèse tauscht nur die eine Ehehölle gegen die nächste. Wulfin Lieske und die Librettistin Sancia Fischbein fanden in dem Stoff vielmehr das deterministische Weltbild aufreizend unzeitgemäß. Denn ähnlich wie beim titelgebenden Domino fällt ein Stein nach dem anderen. Die Figuren sind nicht handelnd in dem Sinne, dass sie Entscheidungen abwägen und moralische Urteile fällen. Sie sind Marionetten ihrer Triebe, ihrer banalen Gier, ihres darwinistischen Überlebenswillens am Unterrand der französischen Bourgeoisie. Musikalisch spiegelt Lieske dieses deterministische Menschenbild in einer Partitur von eigentümlicher Symmetrie. Alle Elemente der Oper sind spiegelsymmetrisch zum Mord angeordnet, der die Mitte der Partitur bildet. So, als würde der Liebesmord die Spiegelachse zu diesem Rorschachtest schaffen, der rechts wie links der Tat nur Elend zeigt. Auch wenn dieser Umstand akustisch schwerlich wahrnehmbar ist, offenbart er doch auf einer Meta-Ebene die Zwanghaftigkeit, in der die Figuren miteinander verbunden sind – ja, aneinander gekettet sind.
In dieses starre Korsett hat Sancia Fischbein einen Text gesprengt, der zwischen Ekel, Wucht, Geilheit, Gier und Schuld oszilliert. Vor dem Hintergrund einer Sprach-Tapete aus Äußerungen der sogenannten Dominogesellschaft, die fast ununterbrochen Gemeinplätze, Plattitüden und Aufgeregtheiten von sich gibt, arbeitet sie eine nicht strahlende – aber ungemein faszinierende Thérèse heraus. Eine Thérèse, die so lange „gutmütig“ gedemütigt wird, bis ihr Stolz gebrochen ist. Die schließlich in einem rohen und blasierten Bauernsohn ihre Rettung sehen will. Die sich in die Lust wirft und in das Abenteuer und die in einem Boney & Clyde-Moment glaubt, ein Mord könne sie auf ewig mit dem Glück verschweißen. Und die schließlich mit dem vermeintlichen Retter in eine Spirale aus Zurückweisungen, Schuldgefühlen und Gewalt gerät - bis ihr als ultima ratio ein weiterer Mord Erlösung bringen soll.
Madame Raquin zieht alleine ihren kränklichen Sohn Camille groß. Als dieser noch ein Kind ist, überlässt ihr Bruder der Madame seine uneheliche Tochter Thérèse, die auf einer seiner Seereisen mit der Tochter eines afrikanischen Stammeshäuptlings gezeugt wurde. In der Familie scheinbar herzlich aufgenommen, beutet Madam Raquin ihre Adoptivtochter als Gesellschafterin und Pflegerin für Camille aus.
Als beide Kinder herangewachsen sind, arrangiert sie eine Ehe zwischen ihnen. Thérèse, stets an die erdrückende Dankesschuld ihrer Tante gegenüber erinnert, übernimmt widerwillig die nicht enden-wollende Verantwortung für Camille, der herrisch und launisch ihre Gefühle ignoriert. Thérèse zieht sich in sich selbst zurück und beugt sich schweigend ihrer Situation. Dabei entstehen in ihrem Inneren heftige Aversionen gegenüber Camille und ihrer Tante, die den Nährboden für den verzweifelten Versuch eines Ausbruchs bilden.
Sie lernt Laurent kennen, der sich ihr grob aufdrängt und dabei ihre Leidenschaft entfacht. Sie beginnt eine ehebrecherische Affäre mit ihm, die im häuslichen Ehebett vollzogen wird, in unmittelbarer Nähe zu Madame. Die Beziehung zu Laurent wird für Thérèse zum Ankerpunkt für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wobei die Intensität und die Leidenschaft alle Vernunft aufzehren und beide immer weiter in ihre eingebildete Liebe eintauchen. Um denjenigen auszuschalten, der sie daran hindert, zusammen zu bleiben, beschließen sie beide, Camille zu töten. Sie arrangieren eine Bootfahrt auf dem Fluss, bei der Laurent Camille ertränkt.
In der Zeit der Trauer halten sich beide bedeckt, schaffen es aber, in der Madame den Gedanken zu wecken, dass nun eine Eheschließung zwischen Thérèse und Laurent die logische Konsequenz sei. Schon die Hochzeitsnacht ist jedoch geprägt von Zurückweisungen, Schuldzuweisungen und Abscheu. Es folgt eine Abwärtsspirale – begünstigt von Wahnvorstellungen, Geldgier und Grobheiten – die in roher Gewalt endet. Aufgrund der Reue, die Thérèse gegenüber Madame und Camille empfindet, nimmt sie dies fast mit offenen Armen als gerechte Strafe für ihre Sünden hin. Sie sehnt sich nach Vergebung. Dies alles geschieht vor den Augen von Madame und der Dominogesellschaft, die allesamt nicht ahnen, dass Thérèse am Mord ihres Gatten beteiligt ist. Der wortlos strafende Blick von Madame und die gewalttätigen Streitereien mit Laurent werden schließlich so unerträglich, dass Thérèse auf einen weiteren Mord zu taumelt. Hier weicht die Oper vom Roman ab, da sich Thérèse kurz vor der finalen Katastrophe gegen neuerliche Gewalt sondern für ein eigenständiges Leben entscheidet. Im Roman indes enden Thérèse und Laurent unter den Augen der Madame in einem gemeinsamen Suizid.
Emile Zola gilt als einer der Begründer des literarischen und theatralischen Naturalismus, der sich von Frankreich aus in Europa und schließlich weiter in die USA verbreitete. Der Autor sieht sich dabei als ein Wissenschaftler. Er setzt Figuren mit einer bestimmten charakterlichen Disposition (Temperamente) in einem bestimmten Milieu aus und beschreibt, wie die Figuren sich unter Fremdeinwirkung verhalten – ähnlich wie ein Chemiker verschiedene Stoffe miteinander reagieren lässt. Dass der Blick dabei auf Biotope weit unterhalb der Oberschicht gerichtet wurde, hat dem Naturalismus seine sozialkritische Seite gegeben. Im Naturalismus
gibt es folgerichtig keine Helden, sondern nur Figuren, die im Zentrum der Betrachtung stehen. Ihre hässliche Seite und die Würdelosigkeiten in ihren Handlungen werden genauso beschrieben, wie ihre positiven Seiten. Auf eine moralische Einordnung des Gezeigten durch den Erzähler wird verzichtet zugunsten der detailgetreuen Beschreibung der Versuchsanordnung und der Geschehnisse.
Verbrechen und Strafe, Sünde und Erlösung spielen in Zolas Roman eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur bei Camilles Mord. Vielmehr sind sie ein dicht durch die verschiedenen
Ebenen des Romans eingewebtes Element, welches in Gesprächen der Figuren und den emotionalen Bindungen zwischen Thérèse und ihrer Familie auftritt und so scheinbar unausweichlich in dem Gewaltverbrechen enden muss.
Obwohl Thérèse und Laurent im Roman den Mord erfolgreich vertuschen können, scheint das Scheitern ihrer Beziehung unausweichlich. Paranoia und Angst führen zunehmend zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Im Krieg zwischen den Eheleuten wird die Frage der Schuld zu einem zentralen Punkt. Sie führt zurück zu den Anfängen der Affäre zwischen Thérèse und Laurent, zur Ehe mit Camille sowie dem ausbeuterischen Verhalten der Tante, bis hin zu Thérèses leiblichem Vater, dem Bruder von Madame, der Thérèse verleugnete. Schon vorher hat er gegen die Gesetze des afrikanischen Stammes verstoßen, indem er als Fremder ein Kind mit einer einheimischen Frau gezeugt hat. Ob und wie eine dieser Taten hätte vermieden oder gesühnt werden können, bleibt unklar. Der Mord an Camille scheint die ursprüngliche Ungerechtigkeit von Thérèses Verschleppung und Verheiratung zu sühnen. Und doch liegt keine Befreiung darin.
Auch heute: ein Mord geschieht in der Nachbarschaft. Der Verdacht fällt auf jene, die dem Opfer nahestanden. Die Nachbarn scheinen entsetzt zu sein, gieren aber gleichzeitig nach blutigen Details und wollen es immer schon geahnt haben. Die öffentliche Empörung ist stets der Deckmantel, unter dem die Gier nach Sensation befriedigt wird. Gleichzeitig dient die Empörung als sichere moralische Abgrenzung des eigenen Handelns. Das stetige Interesse an True Crime-Formaten und der Berichterstattung über Verbrechen spiegeln das ebenso wie der anhaltende Erfolg von fiktionalen Krimis im Fernsehen.
Lieske erzählt seine Oper auf drei Ebenen. Die erste Ebene ist getragen von Thérèses‘ Perspektive. Wir erhalten Einblick in die Psychologie der Figur, ihre Sehnsüchte, ihren Schmerz, ihre Träume von einem anderen Leben. Auch andere Figuren geben auf dieser Ebene schlaglichtartige Einsichten in ihre Innenwelt. Auf der zweiten Ebene steht die Schilderung des pensionierten Kriminalbeamten, der Mitglied der Domino-Gesellschaft ist. Diese Schilderung, die oft als Texteinblendung über dem Geschehen lesbar wird, besteht aus Ermittlungsakten und amtlich gewonnen Erkenntnissen zum Tathergang. Die dritte Ebene schließlich stellt dem irdischen Irrsinn in monumentalem Chorsatz Goethes Gesang der Geister über den Wassern gegenüber. In drei sinfonischen Blöcken entfaltet sich eine kosmische Gegenwelt und wird zum „übermenschlichen“ Gesamtklang montiert. Hier klingen auch Sehnsuchtsmotive an, die jenseits irdischer Bedrängnis von einer Verbundenheit zwischen Mensch und (seiner) Natur künden.
Der metaphorische Raum für diese Einheit ist das Wasser: In Gestalt des Meeres als Sehnsuchtsort; in Gestalt der Ausdünstung des kranken Gatten als Abscheu; und in Gestalt des Flusses als Tatort. Je eine „Sinfonia“ steht am Beginn beider Hauptteile sowie am Ende des Werkes. Sie repräsentieren die drei Stationen: Fluss, Leichenhalle und Transformation. Die Transformation ist die finale Verwandlung von Wasser zu Licht und der Aufbruch Thérèses in die Freiheit.
Dreamtime (WDR Symphony at Cologne Philharmonic)
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Über den Wassern: STANZA 7 (Hilliard Ensemble at EXPO2000 in Hannover)
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Nacht Dauer Rose: Rose (Henryk Böhm - Baritone, Eleonore Klauser - Piano)
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